Konzert SWR Vokalensemble
SWR Vokalensemble
Marcus Creed Leitung

 

Arnold Schönberg (1874–1951)
De Profundis (Psalm 130) op. 50b
Shir hamaalot mima'amakim keraticha adonai (1950)

Daniel Glaus (*1957)
Ruach-Echoraum - Sinfonie für Stimmen (2015)
Angeregt durch die Zusammenarbeit mit Elazar Benyoëtz
Uraufführung

Pause

Heinz Holliger (*1939)
Psalm (1971)
auf einen Text von Paul Celan

Heinz Holliger (*1939)
hölle himmel
Motette nach Gedichten von Kurt Marti (2011/12)
für vier- bis 17-stimmigen Chor
I hölle himmel
II friedensfragen
III «du: der messias?»
IV mutter unser (III)
V intonation
VI feiertag
VII ist klang der sinn?
VIII die höhle das leben
IX existenzgrad null

 

Radio SRF 2 Kultur zeichnet das Konzert auf und sendet es am Mittwoch, 16. Dezember 2015, 22 Uhr.

 

Arnold Schönberg: De profundis
Unter den letzten Werken Arnold Schönbergs findet sich eine Trilogie von Chorstücken: «Dreimal tausend Jahre» op. 50a basiert auf einem Text aus den «Jordan Liedern» von Dagobert Runes, das zweite, De Profundis op. 50B, ist eine Vertonung des hebräischen Psalms 130 «De Profundis» op. 50b, und zum dritten, dem «Modernen Psalm» op. 50c, schrieb er den Text selber. Es ist der erste von sechzehn kurzen Psalmen, die er in den letzten zehn Monaten vor seinem Tod verfasste und in denen er versuchte, «zu den Menschen unserer Zeit in unserer Sprache zu sprechen und von unseren Problemen». Implizit steht diese Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte und gleichzeitig mit der jüdischen Tradition aber auch schon in den anderen Stücken des Opus 50, wie sie überhaupt das Werk des späten Schönberg prägte.

Das «De Profundis», vollendet im Juli 1950, entstand auf Anregung des Chordirigenten Chemjo Vinaver, der eine Anthologie jüdischer Musik für die Jewish Agency for Palestine herausgab. Gefordert war – innerhalb der Zwölftontechnik – eine leichte Singbarkeit. Vinaver schickte Schönberg auch eine Transkription des Texts, in dem die Akzente genau bezeichnet waren. Die sechsteilige Komposition beruht nämlich auf rhythmisch zumeist paarweise gegeneinander geführten Stimmen, wenngleich dieses System in hohem Masse variativ umspielt wird. Der erste Vers etwa wird unisono von den Männerstimmen sprechend artikuliert, während die erste Reihenhälfte in polyphoner Stimmführung auf zweiten Sopran und Alt verteilt ist. Mit dem Wechsel von Sprech- und Chorstimmen strebte Schönberg einen dramatischen Charakter an. Der Werkhöhepunkt liegt auf den Worten des letzten Verses «Er wird Israel erlösen», dargestellt durch ein sieben Schläge lange ausgehaltenes h2 im ersten Sopran. Währenddessen wiederholen die fünf tieferen Stimmen gleichzeitig rhythmisch parallel den Vers. Der Chor schliesst mit einer Tutti-Wiederholung der Zeile; die Frauen- führen nunmehr die Männerstimmen, wenngleich komplementäre Rhythmen die beiden Gruppen miteinander verbinden.
Die Uraufführung fand erst nach dem Tod des Komponisten statt – am 29. Januar 1954 in Köln durch den Kölner Rundfunkchor unter der Leitung von Bernhard Zimmermann.

Psalm 130

Heinz Holliger: Psalm und hölle himmel
Der «Psalm» von 1970 steht an einem Extrempunkt im Schaffen von Heinz Holliger. Seine Musik hatte sich von den seriellen Anfängen über die Erweiterung der Spieltechniken bis hin an die Grenzen physischer und instrumentaler Möglichkeiten entwickelt. Für den Komponisten stellte sich die existentielle Frage, wie es noch weitergehen könne. Im Gespräch mit Kristina Ericson erzählte er später:
«Nach dem Bläserquintet ‹h› (1968), nach ‹Dona nobis pacem› (1968/69) und dem Endpunkt ‹Pneuma› (1970) war der ‹Normalton› völlig ausgelöscht. In Letzterem gibt es nur einen Staccatissimo-Zweiunddreissigstel, der sogenannt normal gespielt wird. Anschliessend kamen meine extremen Stücke, ‹Cardiophonie›, ‹Lied› für Flöte, ‹Studie über Mehrklänge› (alle 1971). Gleichzeitig arbeitete ich an Abendland nach Trakl, einem riesigen Werk über alle fünf Versionen dieses Gedichts. Es wies bereits eine Dauer von über zwanzig Minuten auf, als ich dieses Projekt aufgab, sowohl aus inneren wie äusseren Gründen. Ich war an einem völligen Endpunkt angelangt, wo ich alles kaputt geschlagen hatte, das sich kaputt schlagen lässt. ‹Psalm› ist ja auch in memoriam zweier Künstler geschrieben, die sich das Leben genommen haben: Bernd Alois Zimmermann und Paul Celan. Nelly Sachs schloss ich mit ein, da sie eng mit Celan verbunden war. Es war für mich eine Möglichkeit, selbst zu überleben, wenn man das so sagen kann, oder zumindest meine Musik überleben zu lassen. Zu sehen, dass es überhaupt noch eine Möglichkeit gibt, Musik zu machen.»
Celans Texte hatten Holliger schon zuvor intensiv beschäftigt, ohne dass daraus eine Komposition entstanden wäre. Celan habe versucht, in äusserster Klarheit und Konkretisierung der Wörter nach einer grösseren Fasslichkeit zu streben, sei aber dabei immer dunkler und hermetischer geworden. «Bei mir war das anders, meine Musik wurde nicht komplexer, sondern der Klang verlöschte mehr und mehr – oder wurde richtiggehend massakriert, wie etwa in ‹Cardiophonie›». An diesem Punkt, an dem er nicht mehr weiterkam, entstand «Psalm». «Die Komposition stieg einfach in mir auf, entsprach keiner bewussten Handlung. Gleichzeitig ist dies für mich aber die einzig mögliche Art, mit Celan umzugehen. Celan ist für mich nicht vertonbar, nur verschweigbar oder verstummbar. ‹Psalm› handelt ja davon, dass der Gottesbegriff nicht ausgesprochen, sondern durch ‹Nichts› oder ‹Niemand› ersetzt wird. Es ging mir überhaupt nicht um das Anwenden einer bestimmten Kompositionstechnik, einer modernen Gesangstechnik, sondern es ist wie ein Stück, das genauso gut traditionell hätte komponiert sein können, dem jedoch ein riesengrosser Filter übergestülpt wurde, so dass kein Ton mehr nach draussen dringt, nichts mehr klingt. Oder wie wenn eine Decke darübergelegt wurde und nur noch von den Rändern ein sehr hohes Wimmern oder ein ganz tiefer Strohbass durchdringt, in der Mitte aber der Klang ausgelöscht wurde. Man könnte aber die geschriebenen Laute oder Nicht-Laute, so wie ich sie geschrieben habe, durch Tonhöhen ersetzen. Es kommen richtige Atem-Vokalisen vor, etwa am Schluss, in der Coda, die ausläuft. Schnittpunkt sind die Stellen mit ‹Niemand›, wo nur noch das Formen der Lippen übrigbleibt, eigentlich nur noch ein schwarzes Loch.» Soweit Holliger, und er schliesst mit dem Satz: «Es gibt meines Wissens kein einziges sozusagen unhörbares Chorstück, das den Ton so radikal ausschliesst.»

Aus: Die Niemandrose von Paul Celan (Gedichte 1963)

Am anderen Ende der Entwicklung steht die Motette «hölle himmel», geschaffen vierzig Jahre nach «Psalm». Heinz Holliger schrieb sie für die 800-Jahr-Feiern des Thomanerchors Leipzig und im Auftrag des Bach-Archivs Leipzig. Und ähnlich wie bei Schönberg und Celan verbindet sich die geistliche Thematik mit einer Kritik an gegenwärtigen Zuständen. Dafür hat Holliger auf Gedichte Kurt Martis zurückgegriffen. Der Berner Pfarrer und Dichter hat zu seiner Zeit stets Stellung bezogen und ist damit auch angeeckt. Martis Texte sind radikal, wie das Gedicht andeuten mag, das dem Zyklus den Titel gab:

«ich glaube nicht an die hölle enggläubiger christen
ich glaube nicht an die hölle bornierter fundis
doch bleibt mir im ohr was ein kluger jude gemurmelt:
‹es muss eine hölle geben
– wo wäre sonst hitler?
es muss einen himmel geben
– wo wären sonst die vergasten?›
ich glaube dass schmerz und gedächtnis heilig
ich glaube dass sie weltenschwer wiegen
auf der waage des höchsten und des gerechten»

In anderen Texten spricht er vom Eigeninteresse einiger Industrienationen und ihrem neokolonialen Weltmarkt, vom Atommüll, der noch die Enkel killt, von Ungerechtigkeit und von der Bedrohung durch die absolute Vernichtung. Feststimmung mag dabei wenig aufkommen und bequemen Trost wird man in dieser Motette kaum finden. Holliger folgt diesen Texten, unterzieht sich ihnen und bietet für die Verdeutlichung seine ganze kompositorische Vielfalt auf: Von Klangfeldern bis zum akkordischen Satz, von komplexen Kanontechniken über Wortausdeutungen und Lautmalereien bis hin zur Zitattechnik. Wenn auch ganz anders als einst in «Psalm», wird freilich auch hier die Klanglichkeit infrage gestellt: «ist klang der sinn?» ist das siebente der neun vertonten Gedichte überschrieben. Es lautet:

«ich sann nach sinn
ich hörte klang
ist klang der sinn?
auch rhythmus schwang:
bin der ich bin –
all sinn verscholl
der klang schwingt voll»

Gedichte von Kurt Marti

 

Daniel Glaus: Gedankensplitter zu meiner Sinfonie für Stimmen
Ununterbrochen ziehen Logoi wie Windhauch umher
ein und aus
hindurch und darüber

doch

unsere Mitteilungen sind brüchig
bruchstückhaft
durchlässig

und

wir sind gezwungen zum
Innehalten
Unterbrechen
Warten

*

«Einst ging ein Atem über die Welt
Ruach Elohim;
Nun müssen wir Atem holen
Wie Wasser»
(Elazar Benyoëtz)

Es treibt mich um mit den sich verwebenden, verwehenden Ideen im inneren Ohr, und ich versuche, dieser sich stetig abspielenden Sinfonie habhaft zu werden. Noch ist alles ohne Zeit, ohne Raum, ohne Klang, ohne Struktur, ohne Form, ohne Gestalt.

Dabei sind Prämissen gesetzt:
Das hervorragende SWR Vokalensemble wird meine Musik aufführen. Eine gewünschte Stückdauer ist vereinbart. Der Ort der Uraufführung ist bekannt. Die zur Verfügung stehenden Probezeiten sind disponiert.

Mir wurde die Möglichkeit geboten, das Ensemble kennenzulernen, die Qualitäten auszuloten: ein heller Grundklang, äusserst beweglich, grosse Ausgeglichenheit und Homogenität im Klang, fantastische Intonationssicherheit, virtuose Stimmführung, beeindruckende Pianissimokultur, kurz: ein grossartiges Instrument, um damit meine inneren Klangwelten nach aussen zu tragen!

Visionen, «Auditionen» bauen sich auf in meiner Vorstellung: eine Klangkugel, bestehend aus sich überlagernden, stets sich verändernden Qualitäten, Farben, Periodizitäten, Dichten, Energien; das Sichdrehen als Grundprinzip; vom Punkt zum Kreisen zur Kugel; eine akustische «Schau».
Seit langem gehegte Wünsche im Zusammenhang mit dem Chor als Klangkörper tauchen auf in meiner Erinnerung. Bereits als Kind war ich fasziniert, wie sich bei Chorwerken ein Netz von hellen Zisch- und harten Plosivlauten vom ganzen Klang loslöste und verselbständigte. Die Stimme, instrumental eingesetzt, verfügt über eine fast unvorstellbar reiche und differenzierbare Klangfarben- und Artikulationspalette. Es erstaunt daher, dass die tradierte Literatur für Stimme und für Chor kaum textlose Kompositionen aufweist. Wie naheliegend ist es also, eine Sinfonie für Stimmen zu schreiben!

Bei intensiverer Beschäftigung mit der Stimme als Instrument werde ich mir der Schwierigkeit immer bewusster, die sich stellt, wenn die semantische Ebene ausgeschlossen werden soll. Semantik ist ja nicht nur Bedeutungstransfer im Sinne der Sprache als Verständigungsgrundlage. Semantik schliesst auch den ganzen Bereich der Emotionen mit ein. Und hier wird das Unterfangen komplex: Wir sind so sehr gewohnt und vertraut mit dem Deuten und Einordnen von stimmlich-klanglichen Nuancen, dass wir bei einer textlosen, von Stimmen aufgeführten Musik unweigerlich das nicht direkt Ausgesprochene, den emotionalen Subtext zu verstehen und jedes Glissando, jedes Crescendo daraufhin zu interpretieren versuchen. Anders ausgedrückt: Vorerst muss dieser Subtext mit kompositorischen Mitteln überwunden werden, um anschliessend die Ohren der Zuhörenden auf den rein klanglichen Aspekt der Musik zu fokussieren. Dies ist viel schwieriger zu bewerkstelligen als bei einer textierten Musik, bei der die Ohren durch das Verklanglichen des Textes geöffnet werden können.

Bei dieser Fragestellung stehe ich im Moment des Niederschreibens dieser Gedankensplitter – auf dem Weg hin zur Komposition meiner «Sinfonie für Stimmen».
Daniel Glaus



Französische Kirche Bern | |  
Freitag, 23. Oktober 2015 | 20.00 Uhr


macREC GmbH | Atelier Lapislazuli