Konzert Junge Stimmen
Chor des Gymnasiums Neufeld Bern
Christoph Marti, Adrienne Rychard, Bruno Späti Leitung
Chor Universität Bern
Matthias Heep Leitung
Andrea Suter Sopran
Kai Wessel Altus
Richard Helm Bariton
Bettina Boller Violine

 

Burkhard Kinzler (*1963)
Kain und Abel (2014)
I Geschichte, IV Kommentare und X Anrufungen
unter Verwendung des Chorals «Durch Adams Fall ist ganz verderbt», dem Bibeltext (Genesis 3, 9; Genesis 4, 1–10) sowie Gedichten von Jean Apatride, Hilde Domin, Erich Fried, Dan Pagis, Christa Reinig, Helmhold Reinshagen und Nelly Sachs
für Sopran, Altus und Bariton solo, Violine solo und gemischten Chor
Uraufführung

Christian Henking (*1961)
Ruh du nur in guter Ruh (2014)
für 8 Chöre, Sopran, Altus, Bariton, Solo-Geige und 3 Dirigenten
Uraufführung

Iris Szeghy (*1956)
Stabat Mater (2014)
für Sopran, 3 gemischte Chöre und Violine solo
Uraufführung

1. Stabat mater
2. Quis est homo
3. Pro peccatis suae gentis
4. Fac me tecum pie flere
5. Christe, cum sit hinc exire

 

Der Chor des Gymnasiums Neufeld ist für seine experimentierfreudigen und konzeptionell beziehungsreichen Programme bekannt. Gemeinsam mit dem Chor der Universität Bern lotet er aus, wohin die Kirchenmusik im 21. Jahrhundert führen könnte. Der Kongress gab hierfür bei drei KomponistInnen Werke in Auftrag, die sich innovativ mit der Tradition auseinandersetzen. Den roten Faden bildet dabei der Einbezug der einzigartigen Münsterakustik mit den Brennpunkten Empore, Mittelgang, Kanzelplatz, Altarstufen und Chorpodium. Verbunden damit ist das Spiel mit der Mehrchörigkeit; die gemeinsame Besetzung mit Chören, Sopran, Countertenor, Bariton und einer im Raum wandelnden Sologeigerin. Schliesslich wird auf den Berner Renaissance-Komponisten und Politiker Cosmas Alder (um 1497–1550) verwiesen, von dem immer wieder ein Zitat aufscheint. Stilistisch zeigen die drei Werke die ganze Breite heutigen Komponierens und spannen auch theologisch einen grossen Bogen: Burkhard Kinzler schrieb eine Kantate «Kain und Abel» auf eine Vielzahl von Texten, die er in Geschichte, Kommentare und Anrufungen gruppiert. Christian Henking teilt in «Ruh du nur in guter Ruh» die Sängerinnen und Sänger gleich in acht Chöre mit drei Dirigenten auf und verwendet zudem verschiedene musiktheatralische Elemente, während Iris Szeghy zum Schluss alle Chöre vereint und in einer persönlichen Weise des Wechselgesangs das uralte «Stabat Mater» neu gestaltet.
Thomas Gartmann

Im Rahmen der Tagung findet am 23. Oktober ein Konzertnachgespräch mit den Komponisten und der Komponistin statt.

 

Burkhard Kinzler: Kain und Abel
Mit einem akkordischen Choralsatz, freilich fortissimo, «grell, fast schreiend», beginnt der grosse Chor: «Durch Adams Fall ist ganz verderbt». Und mit der rhythmisch freier formulierten Frage «Adam, wo bist du?» antworten die Solisten von der Empore herunter. In diesen wenigen Takten ist vieles schon angelegt, was diese Kantate in ihrem weiteren Verlauf prägen und dabei ineinandergreifen wird: Choralsatz und ungebundene Diktion, Traditionsbezug und Moderne, Räumlichkeit bzw. Bewegung im Raum, das Nebeneinander verschiedener Textebenen, Expressivität und Dramatik.

Einzelne Passagen sind metrisch genau notiert, allein um dem Chor die Koordination zu erleichtern; in anderen aber fehlen die Taktstriche. Die rhythmische Notation der non-misurato-Abschnitte, so schreibt Burkhard Kinzler, benutze eine Schreibweise, die auf György Kurtág zurückgehe (etwa in dessen Klaviersammlung «Játékok»): «Hier sind die Notenwerte nicht rechnerisch, sondern gestisch aufeinander bezogen. So sind ‹kurze Noten› (Viertelnoten ohne Hals) nicht notwendigerweise alle genau gleich lang, und vor allem nicht ‹genau halb so lang› wie ‹lange Noten› (Halbe Noten ohne Hals). Ebenso sind die Beziehungen zu den ‹sehr langen› (Ganze Note) und ‹äusserst langen› (Doppelganze) Noten nicht rechnerisch.» Das mag nun wie ein rein notationstechnischer Exkurs wirken, hat aber seine musikalischen Konsequenzen für die Gestaltung. «Dadurch entsteht eine Vielfalt an leicht unterschiedlichen Notenwerten, die für die plastische, sprachnahe Gestaltung der Texte genutzt werden soll, ohne dass die Musik nach gezählten Rhythmen klingt. Dieses Stück kann in einem grossen Raum wie dem Berner Münster von verschiedenen Orten aus musiziert werden.» Durch diese plastische Textgestaltung im Raum entsteht schliesslich teilweise auch die Dramatik. Und um ein Drama handelt es sich ja, um ein Drama zwischen den Menschen und ihrem Gott.

Zweimal singt der Bariton der Kanzel (und damit Gottes Wort) zugewandt, vorwurfsvoll und sich immer mehr ereifernd – bis hin zur Aggressivität: «Herr, ich erfüllte doch dein wort! ich mühte mich im schweisse deines angesichtes, der erde ihre früchte abzuringen.» Es ist Kain, der hier hadert. Erzählt wird die frühe Geschichte vom Bauern Kain, der das Land mühsam beackerte, und seinem Bruder Abel, dem Hirten, der für seine Opfergaben die Gunst Gottes erhielt. Es ist die Erzählung vom ersten Mord, die Burkhard Kinzler mit musikalischen Mitteln umsetzt. Er folgt dabei dem biblischen Text, kombiniert und kommentiert ihn aber mit älteren Chorälen (wie «Ach Herr, vernimm min kläglich Stimm» von Cosmas Alder) und mit Lyrik unserer Zeit. Gleichermassen aber sind diese Texte auch «Anrufungen» an Gott. Ratio und Emotion sprechen beide aus diesem Werk.

So wird der Stoff in mehrerer Hinsicht «inszeniert», d. h. in eine zeitliche und räumliche Szenerie transferiert, ähnlich wie es die Maler der Renaissance auch taten. Und noch in einer weiteren Hinsicht geht Kinzler über die Erzählung hinaus: Der Schluss verweist auf den gekreuzigten Jesus, verbindet also Altes mit Neuem Testament. Die Geschichte von Kain und Abel ist Gegenwart. Mit den vom Sopran gesungenen Worten «Durch meine Tränen» endet das Werk. Murmelnd verlassen Sänger das Podium, gehen in den Raum hinaus. Der Schluss des «Aaronitischen Segens» («Herr, erhebe dein Angesicht über uns und schenke uns Frieden») leitet in die folgende Komposition hinüber:

Christian Henking: Ruh du nur in guter Ruh
Der Komponist schreibt dazu: «Das Werk zelebriert eine Art Wandelabendmahl. Dabei gehen nicht etwa die Gemeindemitglieder zu den mit Brot und Kelch bereitstehenden Spendern, sondern die Chorsänger und -sängerinnen selbst schreiten zu den Zelebranten – in diesem Fall den Gesangssolisten -, um einen Ton in Empfang zu nehmen, den sie dann singend im Raum verteilen. Es entstehen Klangteppiche, die nach vorgegebenen Mustern durch den Raum fliessen, sich verändern, entwickeln oder absterben. Daneben finden andere, scheinbar ritualisierte Aktionen statt, z. B. das ‹Weitersagen› von kurzen Sprachfetzen von Chormitglied zu Chormitglied, das körperliche Berühren, das zu einer unmittelbaren sängerischen Tätigkeit führt, oder auch ortsabhängiges Singen: Schreitet ein Chormitglied über die unsichtbare Abgrenzung eines bestimmten Bereichs innerhalb des Münsters, beginnt es zu singen respektive hört es mit dem Singen auf. Der Raum selbst bestimmt das Ritual, ausgeführt von acht verschiedenen Chören und drei Gesangssolisten, die teils unabhängig voneinander agieren, sich teils zu grösseren Gruppen zusammen schliessen.

Der Text beruht auf weltlichen, etüdenhaften Textpassagen, die üblicherweise für das Einsingen oder für technische Übungen benutzt werden (was ebenfalls eine rituelle Handlung ist) und so zusammengestellt wurden, dass ein sakral angehauchtes Gedicht entstanden ist, das weniger etwas mitteilen als vielmehr einen Sprachklang aussenden will: Jede Textzeile stützt sich auf einen Vokal:

‹Ruh du nur in guter Ruh,
voll von Trost, voll hoher Wonne.
Welch berechtigtes Vermächtnis
ist die Liebe innig mild.›

Daneben taucht etliche Male ein Ausschnitt aus einem Chorstück von Cosmas Alder (gestorben 1550) auf, das wie eine Art visionäre Erscheinung am Ritual teilhaben will. Der Text dieses Stücks – ‹thuo gnädigklich mich miner Bitt gewären› – entzieht sich dabei dem musikalischen Zitat und breitet sich über den gesamten Ablauf von ‹Ruh du nur in guter Ruh› aus.

Die Geige übernimmt die Funktion des Eingangs- und Ausgangsspiels, wobei diese zwei Begriffe wörtlich genommen werden: Ein auf dem Boden des Mittelgangs liegendes Notenband ist gewissermassen der Wegweiser, dem entlang die Geigerin ins Münster schreitet respektive dieses am Schluss des Rituals wieder verlässt. Die Geigenstimme ist dabei so komponiert, dass sich das Notenband von zwei Seiten lesen lässt: Eingangs- und Ausgangsspiel beruhen auf dem gleichen Notenmaterial, klingen aber verschieden. Nach der rituellen Handlung ist man gereinigt, sieht die Dinge von einer anderen Seite, hat Erkenntnis gewonnen.»

Iris Szeghy: Stabat mater
«Einmal ein ‹Stabat mater› zu komponieren», so schreibt Iris Szeghy, «war seit vielen Jahren meine Intention – die Thematik der Mutter, die ihr durch eine Gewalttat gestorbenes Kind beweint, hat mich immer berührt. Als ich die Anfrage vom Internationalen Kirchenmusikkongress erhielt, ein neues Werk zu schreiben, das die Religiosität in einen modernen Kontext stellt, wusste ich, dass für mich der Moment gekommen war, dieses Projekt zu realisieren.

Ich bin der Meinung, dass es heutzutage kaum mehr möglich ist oder zumindest wenig Sinn hat, die alten liturgischen Texte ohne jeden thematischen Bezug zu unserer Zeit oder zu den Jahrhunderten, die uns von der Entstehung dieser Texte trennen, zu sehen. Aus diesem Grund habe ich zum eigentlichen Thema meines Werkes nicht das Bild der weinenden Maria unter dem Kreuz gewählt. Dieses Bild dient mir vielmehr nur als Metapher für jede Mutter der Welt, die – wie einst die Mutter Jesu – ihr an sich unschuldiges Kind durch eine von der Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppe organisierte Gewalttat verloren hat: im Namen der unterschiedlichsten Ideologien, Religionen, geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetze – durch staatliche Strukturen (Gerichte), durch totalitäre Systeme, Kriege, Aufstände, Revolutionen, Terrororganisationen usw. In der Geschichte der Menschheit sind auf diese Weise Millionen unschuldiger Menschen gestorben – bis heute. Mein Werk will ein kleines Denkmal für sie und ihre Mütter, Väter, Geschwister, Kinder setzen, die sie durch die Jahrhunderte beweinen mussten. Diesen Opfern und dem Andenken an meine Mutter ist das Werk gewidmet.

Aus der lateinischen Sequenz «Stabat mater dolorosa» aus dem 13. Jahrhundert habe ich fünf Strophen ausgewählt; sie bilden die Textgrundlage für die fünf Sätze des Zyklus. Im letzten Satz kommt eine Liste mit 78 Namen von durch die Gesellschaft in verschiedenen Jahrhunderten getöteten Frauen und Männern dazu – ihre Namen werden durch die Solosopranistin, im Wechsel mit einem Klagegesang ohne Worte, gelesen. Die Sopranistin tritt erst in diesem letzten Satz hinzu, und erst mit ihrem Einsatz, mit dem Lesen der Namen der Opfer, erklärt sich die eigentliche Thematik, der Sinn und die Botschaft des Werkes.

Die ersten vier Sätze sind reine A-cappella-Chorsätze, aufgeteilt in drei Chöre – zwei von ihnen stehen vorne auf der Bühne, der dritte Chor soll von der Bühne entfernt sein, damit ein Raumeffekt entsteht (im Berner Münster werden die Sänger dieses dritten – universitären –Chors , auf der Empore stehen, die Chöre des Gymnasiums Neufeld auf der Bühne). Die alte Stabat-mater-Sequenz wurde ursprünglich antiphonal gesungen, als Dialog zwischen zwei Chören – diese Tradition der Textaufteilung im Rahmen der Strophen habe ich in manchen Sätzen meines Werks übernommen, die Melodie der Sequenz erklingt auch als Zitat. Die Bezüge zur alten Musik sind in meinem Werk generell präsent. Durchwoben sind sie mit den Vokal- und Kompositionstechniken, welche die Avantgarde des 20. Jahrhunderts in die Musikgeschichte eingebracht hat – mit Klangfarben und Stimmtechniken wie Flüstern, Sprechen, Schreien, Summen, lautem Ein- und Ausatmen, mit Glissandi, grossen Vibrati, die eine Mikrotonalität erzeugen etc. Das Werk wird so zu einem Amalgam von Altem und Neuem, im kompositorischen wie auch im geistigen Sinne.

Neben den Chören und dem Solosopran spielt die Solovioline eine sehr wichtige Rolle. Sie tritt nie zu den Chören oder dem Sopran hinzu, ihre Auftritte sind immer rein solistisch, als einsamer instrumentaler Gegenpol zum Vokalen. Ihr gehören die vier Intermezzi des Stückes, welche die fünf Hauptsätze verbinden und das Ganze zu einem ohne Pause verlaufenden Zyklus formen. Die Violinstimme kommentiert musikalisch das im vorangehenden Satz Geschehene und nimmt gleichzeitig das im folgenden Satz kommende vorweg – sie wird zu einem ebenbürtigen Partner der Chöre und des Soprans.

Die Reduktion und Konzentration auf das für mich Wesentliche, aber auch die Vielfalt des Ausdrucks, der benutzten musikalischen Mittel und die Arbeit mit feinen Nuancen charakterisieren mein Werk.» Aufnahme Februar 2017 Bratislava



Berner Münster | |  
Donnerstag, 22. Oktober 2015 | 20.00 Uhr


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